Bewegende Gedenkfeier für Jochen Gleditsch

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Nachruf auf Jochen Gleditsch, Ehrenvorsitzender der DÄGfA

In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Ehrenpräsidenten Dr. med. Jochen Gleditsch, der am 14.06.2023 kurz nach Vollendung seines 95. Lebensjahres in Anwesenheit seiner Frau Anneli Gleditsch friedlich von uns gegangen ist.

Wir verlieren mit Jochen Gleditsch einen großen Menschen, Arzt und Pionier der Akupunktur und Naturheilkunde. Er war eine herausragende Persönlichkeit auf den verschiedenen Ebenen des Menschseins.

Jochen Gleditsch hat die Entwicklung der Akupunktur über die letzten 40 Jahre entscheidend geprägt. In der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄGfA e.V.) setzte er als Dozent, Vorsitzender und Ehrenvorsitzender entscheidende Impulse. Darüber genoss er weltweite Anerkennung. Als Präsident und Ehren-Präsident der ärztlichen Akupunktur-Weltgesellschaft International Council of Acupuncture and Related Technics (ICMART) war er auf allen Kontinenten gleichermaßen beliebt. So wurde er von 9 nationalen und internationalen Fachgesellschaften mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Er hat in Hunderten von Kursen, vor allem als Referent der DÄGfA, eine ganze Generation von Ärzten und Zahnärzten in Akupunktur unterwiesen.  Sein ausserordentliches Lebenswerk umfasst die Systematisierung der Mikrosystem-Akupunktur (MikroAkuPunktSysteme, MAPS), die Beschreibung der Mundakupunktur als schnell wirksames Somatotop, die Entwicklung der Very Point Technik® nach Gleditsch zum schnellen Auffinden sensibler und reaktiver Punkte und eine umfassende Interpretation der Theorie der Wandlungsphasen der TCM. Er war gleichermaßen beliebt als Lehrer, Arzt und Mentor für unzählige Ärzte, Patienten und Studierende.

Jochen Gleditsch wurde am 11.5.1928 in Kreuzburg, einer oberschlesischen Kreisstadt, geboren. Sein Vater war Direktor des dortigen Knabengymnasiums. Knapp 17-jährig wurde er von der Schulbank weg noch zur Wehrmacht eingezogen. Dank der Weitsicht seines Offiziers, der in letzter Minute seinen Trupp junger Leute auflöste, entkam Jochen Gleditsch russischer Gefangenschaft. Er floh von Schlesien nach Berlin zu Verwandten.

Um schnell eine Berufsausbildung abzuschließen entschied er sich für das kürzest mögliche Studium: sechs Semester Zahnmedizin. Damit war er 1949 mit 21 Jahren Deutschlands jüngster Zahnarzt. Arbeit gab es in den ersten Nachkriegszeiten allerdings nicht, so dass er noch Humanmedizin weiterstudierte. Die Approbation als Arzt folgte 1954, danach die Promotion zum Dr.med..

Deutschlands jüngster Zahnarzt und Facharzt für HNO-Heilkunde

Im Sozialstaat Schweden, der im Weltkrieg neutral geblieben war, wurde damals eine staatliche zahnärztliche Grundversorgung für die Bevölkerung und speziell für Schulkinder eingerichtet. Die Schweden kannten nur gesüßtes Brot, und viele Kinder hatten bereits mit Schuleintritt kariöse Zähne. Schweden hatte andererseits einen hohen medizinischen Standard. Viele deutsche Zahnärzte fanden hier Beschäftigung und lernten hochmoderne Behandlungsformen anzuwenden. So war Jochen Gleditsch von 1955-57 an einer schwedischen Poliklinik als Zahnarzt tätig.

Nach West-Berlin zurückgekehrt, war er von 1958 bis 1962 in eigener Praxis als Zahnarzt niedergelassen. Eines Morgens, kurz vor Errichtung der Berliner Mauer, saß im Wartezimmer ein geflüchteter befreundeter Zahnarzt aus Ostberlin. Er bat inständig: „Herr Gleditsch, Sie sind jung, mit allen Chancen – überlassen Sie mir Ihre Praxis…!“ (Zitat Anneli Gleditsch). Jochen übergab dem Zahnarzt seine Praxis.

Es war das Signal zum Wechsel von der Zahnmedizin hin zur Humanmedizin und zugleich von Berlin nach Wiesbaden. Dort war ihm im städtischen Krankenhaus eine Stelle angeboten worden samt Ausbildung zum Facharzt für HNO. Danach folgte seine HNO-ärztliche Niederlassung mit Belegarzt-Tätigkeit von 1967-70.

Wegen eines Krankheitsfalles in der Familie seiner Frau wechselte das Ehepaar Gleditsch 1970 nach München und die beiden Kinder Lars und Kerstin wurden geboren. Dort führte er eine HNO-Praxis bis 1992. Aber es frustrierte ihn, dass damals in der Schulmedizin im HNO-Fach neben operativer Therapie hauptsächlich kurzfristige Symptomlinderung und Antibiotika angeboten wurden. Die entscheidende Wende, die seinen weiteren beruflichen Weg bestimmen sollte, kam, als er auf einem Kongress die Akupunktur kennenlernte. Die Ganzheitlichkeit und die Möglichkeiten zur System-Umstimmung im Gesamtorganismus faszinierten ihn. Er erprobte und erforschte viel; über die klassische Akupunktur hinaus gelangte er zu weiterführenden Methoden, zur Neuraltherapie, zu naturheilkundlichen und ernährungsspezifischen Therapien.

Mundakupunktur, Very-Point-Technik®, MikroAkuPunktSysteme und ein ganzheitliches Menschenbild

Sein Interesse galt insbesondere den sogenannten Somatotopien, das sind aus Akupunkturpunkten bestehende Projektionen des Körpers auf umschriebenen Körperteilen, wie z.B. die Ohrakupunktur. Als Zahnarzt war er überrascht, selbst auf der Mundschleimhaut eine komplette Repräsentation des Körpers in Form von spezifischen Punkten auf engstem Raum vorzufinden. Aus dieser bahnbrechenden Entdeckung entwickelte Jochen Gleditsch die Systematik der Mundakupunktur mit deren therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten. Zur Auffindung behandlungsbedürftiger oraler Irritationspunkte mittels Nadel verwendete er eine spezifische Klopf-Technik, heute als Very-Point-Technik ® nach Gleditsch weltweit bekannt.

Seinen ersten Vortrag hielt Jochen erst 1976, mit knapp 50 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Akupunktur endgültig zu seinem Lebensinhalt, ihre Verbreitung zu seiner Lebensaufgabe. Bereits 1978 reiste er mit einer Studiengruppe nach China, eine zweite Reise mit DÄGfA-Dozenten folgte 1988.

1979 erschien sein erstes Buch „Mundakupunktur“ und bereits 1981 das zweite Buch „Reflexzonen und Somatotopien – Vom Mikrosystem zu einer Gesamtschau des Menschen“, mittlerweile in der 9. Auflage. Somit war bereits eine Grundlage geschaffen für die Verbreitung der neuen Erkenntnisse.

 

Forschung, Lehre und Praxis vereint in einer Person

1985 wurde er zum 1. Vorsitzenden der DÄGfA gewählt, später wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Er pflegte von Anbeginn seine internationalen Kontakte. Insbesondere mit Ost-Europäischen Kollegen fühlte er eine enge Verbindung, die er auch in den Zeiten des Mauerbaues und des kalten Krieges aufrechterhielt, teilweise in geheimen Treffen unter Umgehung der Obrigkeiten. So war es nur eine logische Folge, dass er 1990 zum Präsidenten des ICMART gewählt wurde und später auch zum Ehren-Präsidenten ernannt wurde.

Ebenso 1990 erhielt er vom Dekan der medizinischen Fakultät der LMU München einen Lehrauftrag. Gleichzeitig arbeitete er als Konsiliarius an der Interdisziplinären Schmerzambulanz der Klinik für Anaesthesiologie und der Klinik für Physikalische Medizin, zunächst am Klinikum Großhadern und ab 2001 regelmäßig in der Schmerzambulanz am Standort Innenstadt. Immer wurden ihm die schwierigsten Fälle vorgestellt und auch wenn Heilung nicht gelang verließen die Patienten optimistisch und schmerzgelindert die Ambulanz.

1991 fand ein besonderes Ereignis unter Leitung von Jochen Gleditsch statt. Kurz nach der Wende organisierte er den ICMART-Akupunktur-Weltkongress an der LMU München, endlich vereint mit Freunden aus Ost-Europa, die von ihm aus eigener Tasche unterstützt wurden, wenn die Anreise aus dem Osten zu kostspielig war.

Freundschaften in aller Welt – sozial und unterstützend

1996 erhielt Jochen Gleditsch das Bundesverdienstkreuz für soziales Engagement. Es folgten weitere Jahre der höchsten Aktivität, er reiste rastlos, aber immer gut gelaunt durch die ganze Welt, hielt Vorträge und lehrte in Kursen. Seine Anhängerschaft wuchs ständig.

2010 wurde 20 Jahre Lehrauftrag im Rahmen eines internationalen LMU-Symposium gefeiert.

Er sammelte renommierte Preise und Auszeichnungen, bereits 2001 erhielt er den Bachmann-Preis der DÄGfA. 2004 folgte die Ewald-Harndt-Medaille der Zahnärztekammer Berlin. Dort, aber auch in neun weiteren Zahnärztekammern hielt er zahlreiche Seminare zur Schmerztherapie in der Zahnheilkunde. Seine 20-jährige Lehrtätigkeit an der HNO-Klinik der Carl-Carus-Universität Dresden und für den Berufsverband der HNO-Ärzte wurde mit dem Hofmann-Heermann der deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde ausgezeichnet.

2019 hielt er seinen letzten Vortrag „Gesundheit als humane Leistung“ bei den Festspielgesprächen in Bregenz.

Sein Werk umfasste über 100 Publikationen, darunter einige high impact Publikationen, denn er initiierte und betreute eine ganze Reihe wissenschaftliche Studien unter anderem an vielen deutschen Universitätsklinika.

In den drei letzten Jahrzehnten trieb ihn die Frage nach einem umfassenden Menschenbild um, welches er im Dialog mit bekannten Geistes- und Naturwissenschaftlern intensiv diskutierte und voranbrachte. Dabei gab es für ihn keine Grenzen zwischen den Disziplinen, zwischen Tradition und Moderne. Die große Gabe transdisziplinär, ganzheitlich und positiv zu denken machte ihn zu einem großen Menschen seiner Zeit. Sein Handeln war geprägt von Bescheidenheit, Disziplin und nahezu selbstloser Menschenliebe.

Jochen Gleditsch war Impuls, Trost und Leitstruktur für unzählige Menschen

Seine lebensbejahende Spiritualität, tief verwurzelt im christlichen Glauben, war darüber hinaus Impuls, Trost und Leitstruktur für unzählige Menschen, darunter viele Patienten und Ärzte.

Bereits zum 85. Geburtstag, betitelt „Gedanken 2013“, schreibt Jochen Gleditsch in einem privaten Schriftstück aus dem ich mit Erlaubnis seiner Ehefrau Anneli, die Jochen nun 65 Jahre begleitet hat, zitieren darf:

„Ein Traum bewegte mich und führte zu einer Lebensbilanz: Ich habe ein wunderbares und langes Leben gehabt, bin weit älter geworden als alle meine Vorfahren, meine Freunde und Klassenkameraden – und ganze 20 Jahre mehr als mein Vater. Mein Leben stand unter so reichem Segen, dass ich voller Dankbarkeit zurückblicken kann.
Das größte Geschenk – die größte Gnade- ist meine Anneli, sie ist wie ein Engel in mein Leben getreten und ich kann nicht dankbar genug sein für eine solche Gnade: …., in wunderbarem Miteinander, ohne finanziellen Nöte; vor allem aber im gemeinsamen Suchen und Neu-Finden und Gefunden-Werden.“

Wir sind dankbar dafür, dass Du uns, lieber Jochen, über viele Jahre Dein Wissen, Deinen Enthusiasmus und Deine menschliche Wärme geschenkt hast.

 

Prof. Dr. med. Dominik Irnich
1. Vorsitzender
Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur e.V.

 

Ein Bericht zur Gedenkfeier inklusive Reden wird in der DZA 3/2023 erscheinen